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Kurzeinführung Arbeitsmarkttheorie

Die Kontroversen darüber, wie der Arbeitsmarkt funktioniert, wie Arbeitslosigkeit entsteht und wie sie zu bekämpfen ist, haben über die zurückliegenden Jahrzehnte an Brisanz verloren. Arbeitslosigkeit tritt kaum mehr als einschneidende, einem tiefen Wirtschaftseinbruch folgende Massenarbeitslosigkeit auf, sie führt nicht mehr zu Massenelend und nicht zu Massenprotesten. Diese Arbeitslosigkeit ist ein überwiegend strukturelles Phänomen.

Damit ist das Problem aber weder befriedigend erklärt noch einer politischen Lösung nähergebracht. Erklärungsbedürftig bleibt auch, warum das Ausmaß der Arbeitslosigkeit national, regional und im Zeitablauf stark divergiert und warum die politischen Reaktionen hierauf sehr unterschiedlich ausfallen.

Die im Reformforum Neopolis vorgestellten Schriften bieten einen theoretischen Erklärungsansatz für strukturelle Arbeitslosigkeit, der solche Verständnislücken schließen hilft. (S. hierzu u.a. den einführenden Kurzessay "Die Logik des Arbeitsmarktes" unter "Essays und Artikel" auf dieser Seite und die Kurzdarstellung "A Striking Characteristic of the Labour Market" (s.u.)). Diese Theorie hilft, die Dauerhaftigkeit der hohen Arbeitslosigkeit in vielen wirtschaftlich entwickelten Staaten besser zu verstehen und ebenso die disparaten Entwicklungen nationaler und regionaler Arbeitsmärkte.

In dieser Theorie wird strukturelle Arbeitslosigkeit als Folge einer nicht marktgerechten Lohnstruktur betrachtet. Dabei wird gezeigt, welche spontanen menschlichen Verhaltensweisen marktwidrig auf die Lohnstrukturen einwirken. Gäbe es diese Verhaltensweisen nicht, könnten sich die Lohnstrukturen vollständig marktkonform entwickeln, und es gäbe keine lohnstrukturbedingte Arbeitslosigkeit.

Welche Mechanismen marktwidrig auf die Lohnstruktur einwirken, sei hier an einem einfachen, lebensnahen Beispiel erläutert:
In einer Unternehmensabteilung seien drei Arbeitskräfte mit gleichartigen Aufgaben beschäftigt. Eine dieser Arbeitskräfte erscheint – sei es quantitativ oder qualitativ – weniger produktiv als die zwei anderen. Objektiv nachweisbar ist dies jedoch nicht. Diese weniger produktive Arbeitskraft beansprucht daher den gleichen Lohn wie die beiden produktiveren. Damit macht sie den (von mir so genannten) Gleichbehandlungsanspruch geltend.

Der Unternehmer hat in solcher Lage zwei für ihn gleichermaßen unerfreuliche Optionen. Belässt er es bei gleicher Entlohnung für alle drei, werden die beiden Produktiveren sich fragen: Warum sollen wir für das gleiche Geld mehr leisten als der Dritte? Sie schöpfen daher ihre Leistungsfähigkeit nicht vollständig aus. Die Gesamtproduktivität der Gruppe bleibt hinter den Möglichkeiten zurück.

Zahlt der Unternehmer stattdessen der weniger produktiven Arbeitskraft entsprechend weniger Lohn, löst er bei ihr damit Unmut und Widerstände aus. Die Arbeitsmotivation lässt nach, und es kann zudem zu kostspieligen Personalquerelen kommen. Auch dies ließe die Produktivität insgesamt sinken.

In beiden Fällen entstünden dem Unternehmer also Kosten bzw. Einbußen, und diese würde er der weniger produktiven Arbeitskraft zurechnen. Diese Arbeitskraft kann daher aus Unternehmersicht nicht rentabel beschäftigt werden. Ihr droht also zumindest vorübergehende Arbeitslosigkeit.

(Anmerkung: Dieser Ausgrenzungsmechanismus ist natürlich in gewinnorientierten Unternehmen stärker als z.B. im öffentlichen Dienst. Dort wirkt sich dieses Phänomen daher viel stärker, also negativer auf die Produktivität aus. Dieser produktivitätsmindernde Effekt kann sich in einer Hochkonjunkturphase auch in der Privatwirtschaft verstärken, aber dem folgt im nachfolgenden wirtschaftlichen Abschwung ein produktivitätssteigernder personeller Bereinigungsprozess.)

Man mag solche Phänomene für ein normales, alltägliches Geschehen in betrieblichen Kleingruppen halten, das allenfalls sozialpsychologisch relevant sein mag, nicht aber für die Beschäftigungspolitik. Das Gegenteil ist richtig. Der Widerstreit zwischen dem Gleichbehandlungsanspruch von Arbeitskräften und der Marktbewertung von Arbeitsleistungen hat für das Verständnis des Arbeitsmarktes herausragende Bedeutung. Dies, zumal der Gleichbehandlungsanspruch keinesfalls nur in Kleingruppen der genannten Art zur Wirkung kommt. Er spielt in Anspruchskontexten aller Ebenen eine Rolle, auf denen Arbeitskräfte sich einem gemeinsamen Anspruchsadressaten gegenübersehen. Diese Anspruchskontexte können Arbeitsteams, Unternehmensabteilungen, Unternehmen und Konzerne sein, aber auch Tarifvertragsparteien, der Staat oder ganz allgemein die Politik. Auf all diesen Ebenen entstehen Ansprüche, die den Bewertungen des Marktes – und den daraus von Arbeitgebern abgeleiteten Bewertungen – mehr oder weniger stark widersprechen.
Die Lohnbildung auf den Arbeitsmärkten muss daher immer als ein Zusammenspiel zwischen Marktkräften und hiergegen gerichteten Widerständen seitens der Arbeitskräfte verstanden werden. Das Ergebnis dieses Zusammenspiels spielt eine wichtige Rolle beim Zustandekommen von Arbeitslosigkeit.

Gleichbehandlungsansprüche entstehen spontan, und man kann sie sogar als anthropologische Gegebenheit betrachten. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass sie immer und überall gleich wären. Ihre Intensität hängt u.a. von ideologischen und politischen Prägungen und Neigungen ab und damit auch vom Zeitgeist. Insofern ist Arbeitslosigkeit zu einem gewissen Grad tatsächlich ein Zeitgeistphänomen. Als solches unterliegt sie langwelligen Veränderungstrends und kann sie sich zudem in verschiedenen Regionen und Ländern sehr verschieden entwickeln.

Erheblichen Einfluss auf die Gleichbehandlungsansprüche haben aber auch institutionelle Gegebenheiten. Je schwächer z.B. Gewerkschaften sind, desto schwächer dürften im Durchschnitt die Gleichbehandlungsansprüche von Arbeitskräften ausgeprägt sein. Zudem können Gleichbehandlungsansprüche sich umso schwerer ausbreiten, als die Beschäftigten in zunehmend zersplitterten kleinen Anspruchskontexten tätig sind. Auch Vertraulichkeit der Höhe der Arbeitsentgelte kann helfen, die Gleichbehandlungsansprüche moderat zu halten. Aus all dem kann man den Schluss ziehen, dass die gesellschaftlichen und institutionellen Trends der vergangenen Jahrzehnte tendenziell eher dämpfend auf die Gleichbehandlungsansprüche – und damit auf die Arbeitslosigkeit – gewirkt haben.

Zu diesem Trend tragen aber natürlich auch die Unternehmen aktiv bei. Je stärker der Wettbewerbsdruck, desto eher sehen Unternehmen sich genötigt, den effizienzmindernden und lohnkostentreibenden Wirkungen der Gleichbehandlungsansprüche entgegenzutreten. Hierzu kann z.B. das Outsourcing einzelner Tätigkeiten beitragen oder die Ausgliederung von Aktivitäten in in- oder ausländische Tochtergesellschaften. Die Verbreitung solcher Phänomene zeugt daher im Umkehrschluss von der Wirkungsmacht der Gleichbehandlungsansprüche.

Generell gilt hierbei, dass die Beschäftigten umso produktiver sind, je weniger ungleich die individuellen Leistungsfähigkeiten in den jeweiligen Anspruchskontexten. Desto wettbewerbsfähiger sind damit die Unternehmen, und desto geringer ist zumindest tendenziell die Arbeitslosigkeit. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Anspruchskontexte sich tatsächlich entsprechend weit über das Spektrum der Leistungsfähigkeiten ausdifferenzieren und sich die sog. Lohnspreizung – und damit die Einkommensungleichheit – den Marktgegebenheiten entsprechend anpasst.

Daraus ergibt sich auch, dass das System der sozialen Sicherung erheblichen Einfluss auf die Gleichbehandlungsansprüche hat. Je großzügiger nämlich die soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit, desto selbstbewusster können Arbeitskräfte auf ihren spontanen Gleichbehandlungsansprüchen beharren. Desto geringer ist ihre Bereitschaft, sich mit scheinbar zu geringen Löhnen abzufinden, auch wenn diese auf einer marktgerechten Leistungsbewertung beruhen. Desto höher ist dann aber tendenziell die Arbeitslosigkeit.

Wie die Gleichbehandlungsansprüche sich auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit auswirken, hängt damit vor allem vom Bewusstseinsstand der Arbeitskräfte, von Organisationsstrukturen der Wirtschaft und von sozialstaatlichen Rahmenbedingungen ab. In den zurückliegenden Jahrzehnten hat diese Wirkung tendenziell abgenommen. Wenn dieser Trend sich aber umkehrt, kann das Problem Arbeitslosigkeit wieder weit oben auf die politische Agenda gelangen. Dann wird es umso wichtiger, dass der Zusammenhang zwischen dem Gleichbehandlungsanspruch und der Arbeitslosigkeit auch von den politischen Akteuren verstanden wird. Dann wird es u.a. um die Frage gehen, ob nicht doch ein Bürgergeldsystem, wie es hier in den Aufsätzen und Büchern der Rubrik Sozialstaat beschrieben wird, der Schlüssel für die Lösung des Beschäftigungsproblems ist.

Die Wirkung des Gleichbehandlungsanspruchs auf die Lohnstruktur ist eine wichtige Ursache struktureller, nicht-konjunktureller Arbeitslosigkeit, aber natürlich nicht die einzige. Arbeitslosigkeit lässt sich u.a. auch als Folge unterlassener Produktion deuten, und ihr Ausmaß hängt insofern davon ob, ob und in welchem Maße Unternehmer Gründe finden, an sich mögliche Produktion zu unterlassen. Ein wichtiger Grund für solche Unterlassung ist das Ausweichen vor unternehmerischen Risiken. (S. hierzu auch "Wenn Risiken zu groß werden. Risikoprämie, Produktionsvolumen und Beschäftigung" auf dieser Seite unter "Essays und Artikel".)

Beschäftigungspolitik sollte daher immer auch als sog. präventive Risikopolitik angelegt sein. Diese Erkenntnis hat sich – wenn auch in anderer als der hier gewählten Diktion – in der zurückliegenden beschäftigungspolitischen Diskussion weitgehend durchgesetzt. Die hier vorgestellte Erklärung des unternehmerischen Risikoverhaltens (B. Wehner, “Der Arbeitsmarkt im Sozialstaat”, Kap. 2) und der zugehörige risikopolitische Ansatz der Beschäftigungspolitik (“Der Neue Sozialstaat”, Kap. 4.1.) behalten auch vor diesem Hintergrund hohe Aktualität. (S. hierzu die Bücherliste auf dieser Seite.)

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